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Vision des
schöpferischen Aktes

diskurs

Inwiefern hat sich die Vision des schöpferischen Akts im 20. und 21. Jahrhundert verändert?

Die Arbeitsteilung, bei der dem Komponisten die Funktion des Schöpferischen, dem Interpreten die Umsetzung des Notentextes und dem Hörer eine passive Rolle – nämlich das fertige Produkt zu geniessen zugeteilt wird – hat nun ganz ausgedient. Hören wird spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts als eine Handlung erkannt, denn die nicht „selbstverständlichen“ Klänge rufen jetzt zum aktiven Prozess des Verstehens und Erfahrens, des Sinn-Gebens auf. Dabei denke ich, dass Musikliebhaber oder musikalisch Neugierige emotional sehr viel mehr über ein Werk erfassen, als sie zu wissen glauben – und scheinbare Kenner sehr viel weniger erleben, als sie verbal zu verstehen geben.

Da die heute entstehende Kunst aber im alten Sinne nicht mehr ästhetisch ist und sein kann, steht die Frage an, was ist ästhetisch. Aisthesis kann als das verstanden werden, was das Wort bedeutet, nämlich Wahrnehmung. Moderne Kunst hat demnach den Sinn, in einer gänzlich neuen Weise Wahrnehmung zu artikulieren, im Fall von Musik: Wahrnehmung des Klangs und Wahrnehmung der Zeit. Alle Fragen nach Tonalität, Atonalität, historischen Aspekten, künstlerischen Mitteln aber treten in den Hintergrund gegenüber der einen Frage: Wie weit ist die Musik von heute Sprache und Darstellung unserer selbst und wie weit finden wir uns in ihr wieder?

Wie ist es möglich, beim Zuhörer für diese neuen Klangwelten Neugier zu entfachen und ihm darüber hinaus neue Erfahrungsräume zu öffnen?

Seit einiger Zeit versuche ich, schriftlich oder mündlich die Zuhörer in ein Konzert-Programm einzuführen. Sprachlich intellektuelle Erläuterungen über Kompositionstechnik, Form oder sozio-kulturellen Hintergrund aber können emotionales Erfassen nie ersetzen, sicher ergänzen, vertiefen und zu einem ganzheitlicheren Verstehen führen. Vielleicht empfindet dann der musikalisch Neugierige das Neue und Unbekannte plötzlich als nichts anderes als die Verbindung zum Alten. Die Worte Alt und Neu – Geschichte also – fordern dazu auf, die dazwischenliegende geistige Entwicklung zu reflektieren.

So sehe ich es mit reiferen Jahren selbst: Werke, die ich öfter vortrage, erfahren einen Reifungsprozess und werden zudem bewusst mit wechselnder Programmgestaltung stets von Neuem beleuchtet – einem Gemälde gleich, das ich je nach Raum und Platzierung immer wieder einem völlig anderen Energiefeld aussetze.

Vielleicht liegt auch hierin das persönliche Bedürfnis begründet, Alt und Neu – genau wie Pädagogisches und Künstlerisches – als Einheit in der Dualität zu verstehen: Mittels Sagen durch Worte und Sagen durch Töne mich mitzuteilen, meinem Tun auf diese Weise einen umfassenderen Sinn zu verleihen – nämlich Menschen ganzheitlicher in die alte wie neue Klangwelt einzuführen und sie am künstlerischen Prozess teilnehmen zu lassen ...

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