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Klangspuren einer inneren Transzendenz

„So entstand meine Welt. Nur mir gehörte sie und umfasste alles.“ Leoš Janáček

Programm

Mit dem Einbruch der romantischen Welt- und Seinserfahrung erfolgt eine zugleich machtvolle Steigerung aller energetischen Spannungskräfte auch in der Musik. Diese Gleichsetzung von „Ich und Welt” bricht mit allem bisher Dagewesenen. War die Musik der Wiener Klassik (ca. 1730–1815) von einer Balance zwischen einer reichen emotionalen Ebene und Rationalität geprägt, so wird in der darauffolgenden Epoche, der Romantik (ca. 1815–1900), durch den Blick nach innen einerseits und den Blick nach aussen andererseits, diese Balance schwerwiegend beeinträchtigt. Der Entdeckung unbekannter „Nachtseiten des Lebens“, des Unbewussten, der Einsamkeit und des Gefühls der Entwurzelung stehen Träume und Sehnsüchte nach Entgrenzung, Unendlichkeit, nach Fremdem, Exotischem und Nichtzivilisiertem gegenüber.

 

Dieses Hinauswachsen in sogenannte „Schattenthemen“ klingt in der ersten Hälfte des 19. Jhs. vor allem im neuartigen Ausdruckswillen zweier bedeutender Musiker an – bei Chopin, aus Warschau stammend, und Liszt, dem gebürtigen Ungarn. Lässt sich bei Chopin im unverwechselbaren Klang der bestimmten Unbestimmtheit seine einmalige Poesie bewundern, so fasziniert bei Liszt die Inszenierung musikalischer Ereignisse mittels hinreissender Virtuosität und erweiterter Pianistik. Transzendente poetische Momente lassen musikalisch Weite und Entgrenzung zu und ermöglichen Charakterbilder wie Visionen, Erinnerungen oder Abendklänge.

Chopins intimer Klang, eine Mischung aus polnischer Melancholie und französischer Eleganz (die Mutter war Polin, der Vater Franzose) ist musikalisch einzigartig – eine Erscheinung, über die Robert Walser schreibt: „(...) wo sich Hell- und Dunkelheit vermischen, sich zu reizenden Melodien vermischen, wo Trauer schön ist und die Wehmut herrlich (...)“. Tatsächlich waren es die Liebe und lebenslange Sehnsucht zur verloren gegangenen Heimat Polen, die Entfremdung, welche dieses Schaffen prägte und die Préludes mit Klangtrübungen und Dämmertönen anreicherten.

 

Dies fand bei Debussy, dem Franzosen, der Chopin „Genie und feinsten Geschmack“ attestierte, starke Resonanz – umso mehr, als ganz im Zeitgeist des Impressionismus (ca. 1860–1915) Maler wie Monet, Degas, Renoir, Cézanne versuchten, Stimmungsaugenblicke mit Licht- und Schatteneffekten im Freien einzufangen. Bildende Kunst und Musik geben jetzt dem flüchtigen Moment, dem Unbestimmten, Verfliessenden den Vorzug. Debussy sieht seine Musik als reine „Klang- und Farbkunst“. In dieser Verwendung ist sie keiner harmonischen Abfolge mehr verpflichtet, sie steht nur für sich selbst und wirkt aus sich selbst heraus.

Die Aura zweier Mondschein-Klangbilder, namentlich Mondschein und das später entstandene, der Tradition entrücktere Der Mond scheint auf den Tempel, der hier einst stand, verrät den Blick nach aussen, zum Fremden, Exotischen, letztlich zur Vergänglichkeit alles Materiellen. In beiden vielschichtig gestalteten Werken zeichnet Debussy kontrastierend das Mondlicht zuerst orangegelb und warm, im späteren dann in fahlweisser, unterkühlter Klanglichkeit.

 

Impressionen ganz anderer Art bestimmen auch das Schaffen des Tschechen Janáček. Seine herbe, expressive Klangvorstellung, ebenfalls an der Schwelle zur Moderne, gestaltet nicht wie die französische, das äussere, lichte Erscheinungsbild der Dinge – sondern schöpft die Tonsprache vielmehr unmittelbar aus dem menschlich Existenziellen und der Sprache seiner mährischen Heimat. „(...) Töne, der Tonfall der menschlichen Sprache, jedes Lebewesens überhaupt, hatten für mich die tiefste Wahrheit (...)“. Sein in scharfen Kontrasten komponierter und geheimnisvoll anmutender Zyklus Im Nebel gehört ins Reich der inneren Reflexion und künstlerischen Selbstsuche. Zerrissenheit und Resignation drängen darin nach unmittelbarer Expression und Freisetzung angestauter Energien. Sein letzter Schüler, der Pianist Rudolf Firkušný bemerkt dazu: „Seine Werke für Soloklavier können als eine Art Tagebuch, ja fast sogar als eine Beichte von den emotionalen Höhen und Tiefen über die Jahre hinweg gesehen werden.“

 

So wie Debussy und Janáček geschichtswirksam in der Rolle des Wegbereiters für das neue Klangverständnis des 20. Jahrhunderts stehen, zählen die beiden Amerikaner Cowell und Cage zu seinen bahnbrechenden Musikrevolutionären. Ihre innovativen, avantgardistischen Ideen verhelfen neuen Klangwelten zum Durchbruch und forcieren die abendländische Musiktradition zu Neugestaltungen, in welchen sich – durch die Atonalität angeregt, ausgelöst und beschleunigt – ganz unterschiedliche Bewegungen abspielen. Normen, was kompositorisch zulässig ist, lassen sich keine mehr ableiten. Einziges Kriterium scheint die Authentizität der Erfahrung, welche sich im Klangverständnis ausdrückt und die kompositorischen Mittel bestimmt.

Cowell, als Wunderkind schon früh durch seine Solokonzerte mit eigenen Werken aufgefallen, wird schliesslich zum Paten der amerikanischen Experimentalmusik. Viele grosse Ideen der Nachkriegsavantgarde nimmt er vorweg. Seine Experimentierfreude befreite um 1923 auch das Klavier von seiner Funktion als Tasteninstrument, indem er ihm, dem Werk Aeolsharfe adäquat, eine neue Spielweise anvertraut. Mit der Aeolsharfe – so ist das Instrument benannt, welches in der Romantik, im Garten dem Wind ausgesetzt, die Landschaft verzaubernd als Stimme der Natur wahrgenommen wurde – lässt er ein Stück poetischer Vergangenheit in neuer Form wiederauferstehen.

Cowells kurzzeitiger Schüler Cage – von dem sein späterer Lehrer Schönberg sagte, er sei nicht Komponist, sondern „Erfinder“– erweitert den Kunstbegriff im Sinne Marcel Duchamps, indem er den Unterschied zwischen Ton und Geräusch als inexistent erklärt, was zur Abschaffung jeglicher Hierarchie führt. Sie ist die letzte Konsequenz eines politischen Denkens, welches im Anarchismus eine Alternative zu existierenden Gesellschaftsordnungen sieht. Mit Primitive, vermutlich ein vom aufklärerischen Zeitgeist Rousseaus inspiriertes „Zurück zur Natur“-Stück, gelingt es Cage, mittels Präparation den Klavierklang so zu gestalten, dass sich der perkussive Charakter des Instruments nicht nur verstärkt, sondern sich beim Hörer Assoziationen zu einer Trommelsprache mit rituellem Duktus aufdrängen und sich auf einmal Nichtzivilisiertes, Archaisches und zivilisierte Welt direkt gegenüberstehen.

Damit verrät letztlich der Klang, so wie er sich über Jahrhunderte entwickelte, dass jede Epoche, jede Kultur ihr eigenes So-Sein und damit verbunden In-der-Welt-Sein vertritt, daraus ihren ureigensten Klang werden lässt und diesen auch derart wiederzugeben vermag, so als lauschten wir am Ende der Transzendenz selber.

Attilio Wichert, 2021

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