Anspruch einer künstlerischen Arbeit
diskurs
Welche Qualitäten sind bei der künstlerischen Arbeit für dich von Bedeutung?
Es sind im Wesentlichen drei: nämlich dieselben, welche der englische Kunstkritiker Gamperz generell in der Kunst sucht: Authentizität, Stimmigkeit und Notwendigkeit. Diesen Anspruch stelle ich an mich, an das Einzelwerk und ans Rezital als Ganzes. Dabei müssen Komposition und Interpretation den ganzen Menschen erfassen, d. h., Emotion, Verstand und Körperlichkeit wirken zusammen.
Das Meisterwerk, das ich zu interpretieren gedenke, will nämlich in all seinen Phasen, von der ersten Regung bis zur letztgültigen Entstehung zurückerobert, gleichsam ver-körpert werden. Auf diesem Weg, den ich als interpretierender Künstler zusammen mit dem Publikum zurücklege, wird der menschliche Erkennensprozess exemplarisch nachempfunden. Der Prozess des ganzheitlichen Erkennens und Lernens, der im normalen Leben eher unbemerkt in uns abläuft, wird hier in der Darbietung des Kunstwerks exemplarisch vorgeführt; zugegeben, diese Darbietung eines Kunstwerks ist – wenn sie ernst gemeint ist – nichts weniger als der Versuch einer Quadratur des Kreises, muss ich doch in meinem Spiel als Interpret neben dem Geschichtlichen auch das Aussergeschichtliche, das ewige Moment, gleichsam Transzendenz in ihm aufleuchten lassen. Das tut ein Rembrandt-Fachmann vor Publikum im Museum nicht anders. Es geht am Ende immer darum, den Urstoff der Gestaltung erkennbar werden zu lassen, die Vision des schöpferischen Aktes selbst, sowohl für den komponierenden Künstler als auch für mich in der Rolle des interpretierenden Künstlers: die Herauskristallisierung einer Inspiration. Darum sehe ich die Perfektion, welche stets angestrebt wird, aber nie erreichbar ist, nicht in der Abwesenheit von Fehlern, sondern in der Anwesenheit und Erkennbarmachung von gestaltendem Charakter. Dies ist für mich auch stets bestimmend bei der Arbeit mit Schülern.
Was bewirkt der Erkenntnisprozess in Kunst und Pädagogik?
Für die Pädagogik ist es von enormer Bedeutung und Tragweite, dem Erkennensprozess als Bewältigung, als sich langsam entwickelnder Stufenplan – welcher in der Interpretation eines Kunstwerks dann verkürzt wiedergegeben wird – beiwohnen zu können. Noch einmal: Dem Unvorhersehbaren in der Kunst können wir uns nur versuchsweise nähern – im strikten Zeitreglement einer musikalischen Aufführung beispielsweise. Dies ist jedoch in der Andersartigkeit zugleich der Ansatz des Lernens für die Pädagogik. In ihrer Vorhersehbarkeit kann ihre Wirkung optimal nur im Prozess mit vielen Etappen und Versuchen erlernt werden. Hier liegt der Punkt, an dem sich Kunst und Pädagogik treffen. Betrachten wir mit diesem Bewusstsein die Gegenwart, in der das fertige Produkt zum Massstab aller Dinge geworden ist, wird es schwierig, in unserer hoch technologisierten, komplexen Welt diesen wahren Erkennens-Prozess in uns anzuregen. Aus meiner Sicht gibt es deshalb für die Pädagogik nur eine Chance des Überlebens, nämlich den Weg der Kunst zu gehen und mit ihrer Hingabe wieder das Lernen zu erlernen ...